Heimat und Fremde

Unter dieses Motto stellte der Verband der deutschen Archivarinnen und Archivare e.V. den 4. Tag der Archive am 1./2. März 2008.

Dieses Thema war für uns Anlass, eine große Menschen­gruppe unserer Stadt in den Mittelpunkt zu stellen, die in unserem Alltag allgegenwärtig sind - doch was wissen wir von ihnen? In einer lockeren Reihe sollen an dieser Stelle die Schicksale einiger Menschen erzählt werden, die in den letzten Jahren aus Russland oder Kasachstan in das Land ihrer Vorväter gekommen sind. Damit wird gleichzeitig einen Beitrag zur Überlieferungs­bildung und –sicherung für das Gedächtnis unserer Stadt, dem Stadtarchiv, geleistet. Die Berichte sollen dort aufbewahrt werden. Zur Einstimmung soll heute ein kurzer Rückblick auf die große Geschichte dienen.

Wer sind denn eigentlich unsere "Russlanddeutschen“?

Trotz der hohen Zahlen russland­deutscher Aussiedler seit dem Ende der 80er Jahre gibt es immer noch sehr viele unter uns, die nicht wissen, wie diese Menschen, die beteuern, dass sie Deutsche geblieben sind, nach Russland oder nach Kasachstan kamen. In Deutschland sind sie Fremde, die für gewöhnlich nur dann in die Schlag­zeilen kommen, wenn sie negativ aufgefallen sind. Doch wie sind diese Deutschen tatsächlich in die Weiten Russlands gekommen? Das ist eine sehr lange Geschichte mit einem tragischen Schlussakt, der am 22. Juni 1941 mit dem Überfall Hitlers auf Russland seinen Anfang nahm. Der Zweite Weltkrieg fügte Russland und Deutschland entsetzliche Wunden zu. Der deutschen Minderheit in der Sowjetunion, die ohne eigenes Zutun zwischen die Mühlsteine der beiden Mächte geraten war, versetzte dieser einen besonders schweren Stoß, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Die Geschichte der Russlanddeutschen ist aber nicht nur 60 Jahre alt, sondern über 1000.

 

Bereits im 9. und 10. Jahrhundert wagten mutige deutsche Forschungs­reisende den Weg nach Russland. Und es heirateten die Söhne des Kiewer Großfürsten Jaroslaw Mudry (978 – 1054) deutsche Frauen. In Moskau siedelten sich Deutsche im 12. Jahrhundert an. 1643 gab es in der Hauptstadt Russlands 400 deutsche Höfe. 1652 entstand in Moskau erstmals eine so genannte Nemetzkaja Sloboda, eine Ausländer­vorstadt mit überwiegend deutschen Bewohnern. 1682 lebten dort 18.000 Deutsche.

Während der Regierungszeit Peters des Großen (1682 – 1725) gab es die erste Einwanderungs­welle aus Deutschland nach Russland. Das waren vor allen Dingen Gelehrte, Militärs, Kaufleute und viele Handwerker. Peter der Große hatte in Deutschland das Zimmermanns­handwerk gelernt und wollte zur Modernisierung seines Reiches viele deutsche Handwerker holen. Die ersten Einwanderer ließen sich meistens in Städte nieder, wo sie zur Elite zählten und ihre Verbindung zu Deutschland aufrechterhielten.

Die zweite Einwanderungswelle fand zur Herrschafts­zeit der geborenen deutschen Prinzessin Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst statt, die von 1762 – 1796 als Katharina die Große souverän auf dem Zarenthron regierte. Nach dem bedeutenden Manifest vom 22. Juli 1763 begann die Massen­einreise jener Deutschen, deren Nachkommen seit 1989 zu Hundert­tausenden nach Deutschland zurückkehren. Diese Deutschen zogen bevorzugt an die Wolga, nach Sankt Petersburg und später in die Ukraine.

In den Jahren 1763 – 1768 wanderten rund 8000 deutsche Familien an die Wolga aus. Diese Auswanderer gingen als Wolga­deutsche in die Geschichte ein und bewohnten bis 1941 das größte zusammen­hängende Gebiet in Russland. Von 1918 bis 1941 gab es eine Autonome Sozialistische Republik der Wolga­deutschen. 1770 existierten an der Wolga bereits 105 deutsche Siedlungskolonien.

Die dritte Einwanderungswelle folgte zur Zeit des russischen Zaren Alexander I. von 1801 bis 1825. Die damaligen Auswanderer kamen vor allem aus Württemberg in die Ukraine, den Kaukasus oder auf die Krim. Es wurden viele Siedlungen gegründet, die oftmals die deutschen Namen ihrer Heimatorte wie Darmstadt, Stuttgart usw. erhielten – und die Nachkommen bezeichnen sich noch heute als Schwaben.

Bis zum 1. Weltkrieg waren durch den Kinderreichtum aus 100.000 Russland­deutschen in 150 Jahren 1.700.000 geworden. Bei allen Russland­deutschen entwickelte sich im Laufe ihrer Geschichte ein ausgesprägtes Heimatbewusstsein.

Ab 1941 wurden ca. 800.000 Russland­deutsche nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Über 100.000 mussten unter schlimmsten Bedingungen in Arbeits­lagern der sogenannten Trudarmee Zwangsarbeit leisten. Die meisten überlebten das nicht.

Bis 1955 standen alle Russland­deutschen unter Meldepflicht. Sie durften ihre Wohnorte nicht ohne Genehmigung verlassen. 1964 wurde der Deportations­erlass von 1941 aufgehoben, und es erfolgte ein Teil­rehabilitierung. In ihre Heimat­gebiete, wo sie all ihr Hab und Gut zurücklassen mussten, durften sie jedoch nicht mehr zurückkehren. Die seit 1941 vertriebenen Russland­deutschen lebten in Sibirien und Kasachstan unter sehr schweren und zum Teil diskriminierenden Lebens­umständen. Im öffentlichen Leben und in den Schulen durfte nur russisch gesprochen und geschrieben werden. Das Sprechen der deutschen Sprache war nur innerhalb der Familien möglich. Und natürlich wurden auch Ehen mit Russen geschlossen, so dass die russische Sprache für viele der Nachkommen zur ebenbürtigen oder überwiegenden Sprache geworden ist.

Soviel zum geschichtlichen Hintergrund derjenigen Coswiger, die uns vor allen Dingen durch ihre russische Sprache auffallen. Wie sich die Geschichte der Russland­deutschen auf das Leben der Einzelnen ausgewirkt hat, wird in den nächsten Stadtanzeigern zu lesen sein.

Die meisten deutschen Aussiedler wünschen sich sehr, endlich gleich­berechtigte Bürger in einem Land zu sein und nicht nur Deutsche nach dem Buchstaben des Gesetzes. In Russland waren sie die "Fritzen“, und in Deutschland sind sie die "Russen“. Integration aber braucht neben dem Willen dazu vor allem Zeit, nicht selten viele Jahre. Deshalb bitten die Russland­deutschen: Habt etwas Geduld mit uns!

Daten und Fakten

Die letzte Volkszählung 1989 ergab 2.038.341 Deutsche in der Sowjetunion. Seither sind etwa 1,8 Mio Russland­deutsche nach Deutschland gekommen.

Rechtliche Voraussetzungen zur Übersiedlung nach Deutschland:

  • deutsche Volkszugehörigkeit
  • wer nach dem 31.12.1923 geboren ist, ist nur dann deutscher Volks­zugehöriger, wenn er von einem deutschen Staats­angehörigen oder einem deutschen Volks­zugehörigen abstammt und einen Sprachtest in Deutsch bestanden hat
  • Ehegatten und Kinder können übersiedeln, wenn Sie ebenfalls den Sprachtest bestanden haben
  • Anspruch auf Eingliederungs­hilfen nach dem Bundes­vertriebenen­gesetz in Höhe von 2.045 € bzw. von 3.067 € für vor dem 1.1.1946 Geborene, haben nur Spät­aussiedler aus dem Bereich der ehemaligen UdSSR, die vor dem 01. 04.1956 geboren worden sind.
  • Leistungen nach dem Fremd­renten­gesetz (ca. 60 % einer vergleichbaren Rente in Deutschland) erhalten nur anerkannte Spä­taussiedler. Ehegatten und Abkömmlinge erhalten nur eine Rente, wenn Sie diese hier in Deutschland erarbeitet haben.

Weitere Leistungen speziell für Spätaussiedler werden nicht gewährt. Sie erhalten soziale und finanzielle Hilfen unter den gleichen Voraussetzungen wie Einheimische. Eine Bevorzugung der Spät­aussiedler gegenüber der einheimischen Bevölkerung gibt es nicht!

Brigitte Neumeister, FG Soziales und Wohnen