Das "sündige Dorf" vor 70 Jahren
Dem aufmerksamen Coswiger ist es sicher nicht entgangen, dass die kleine Siedlung an der Moritzburger Straße zwischen Niederauer und Birkenstraße dabei ist, sich einer Metamorphose zu unterziehen. Die Siedlung oder das "sündige Dorf“, wie es Ur-Coswiger auch nennen, mausert sich zu einem individuellen Wohnungsstandort. Wohltuend fällt auf, dass jedes sanierte Doppelhaus einheitliche Fenster, Fassadenfarbe und Dachziegel bekam.
Siedlung an der Lockwitz
Ein Blick zurück soll an die Anfänge dieser Siedlung erinnern. Hohe Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot prägten auch das Leben in Coswig vor 70 Jahren. Durch Mitglieder des Siedlervereins Coswig e.V. wurden bereits von 1925 bis 1927 Doppelhäuser zwischen Siedler- und Birkenstraße erbaut. 1932 wurde der Beschluss von der Gemeinde gefasst, auch das dahinter liegende Land zu besiedeln. Nachdem die Baupläne für die geplanten 22 Kleinsiedlerstellen im Rathaus auslagen, bewarben sich 87 Bauwillige dafür. Nach einer Richtlinie des Reichskommissars für vorstädtische Kleinsiedlungen von 1932 sollten als Siedler "langfristig Erwerbslose, Kriegsbeschädigte und kinderreiche Familien" besonders bevorzugt werden. Von den Siedlern wurde erwartet, dass sie eine bestimmte Zahl von Arbeitstagen an der "Aufschließung des Geländes" mitgearbeitet haben. Der Bau der Häuser sollte "möglichst im Wege der Selbst- und Nachbarhilfe oder ... des freiwilligen Arbeitsdienstes erfolgen ...". Die Richtlinie machte die Vergabe von Darlehen auch davon abhängig, dass "die Wohn- und Stallbauten in einfachster Form und Ausstattung" ausgeführt werden müssen.
So ist erklärlich, dass die Wohnungen kein Bad hatten und nur die Küche beheizbar war. Die Siedlerstellen mit Stall und reichlich Gartenland waren für einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad der Siedler gedacht. Durch eine Verordnung des Arbeits- und Wohlfahrtsministeriums von 1933 wurden die Siedler verpflichtet, an gartenpraktischen Lehrgängen und Lehrgängen zur Kleintierhaltung teilzunehmen, um das Land auch entsprechend bewirtschaften zu können. Dafür ungeeigneten Siedlern konnte gekündigt werden.
Im Sommer 1933 wurden die 11 Doppelhäuser im Geviert Kiefern-, Birken-, Siedlerstraße und An der Lockwitz und zwei dort zusätzlich erbaute Häuser an der Lockwitzbachseite bezogen. Von diesem Ereignis berichtete der Coswiger Anzeiger in seiner Ausgabe vom 16. September 1933 mit einem ausführlichen Artikel.
Warum die Siedlung im Spitzgrund das "sündige Dorf" genannt wird
Im Coswiger Anzeiger Nr. 17 vom 18. September 2003 endete der Artikel mit der Frage nach der Herkunft des Beinamens für diese Siedlung. Da sich einige heimatverbundene Coswiger im Archiv dazu meldeten, gibt es heute die Antwort darauf. Ihnen danken wir, dass sie sich die Zeit nahmen, um ihr heimatgeschichtliches Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen.
Vorausschicken muss ich noch den Hinweis, dass die Siedlung im wesentlichen in drei Bauabschnitten entstand. Nach der ersten Bebauung, der sogenannten "Kriegersiedlung“, folgte 1933 die "Randsiedlung“, der oben genannter Artikel gewidmet war. Ab 1937 wurden Häuser zwischen Siedler- und Niederauer Straße gebaut, die als "Volkswohnungen“ bezeichnet wurden. Eine Coswigerin wusste, dass die Bezeichnung "sündiges Dorf“ auch nur auf diese Häuser beschränkt war. Dort zogen vorwiegend junge Familien ein. Dieses Familienglück fand mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 ein jähes Ende. Die wehrpflichtigen Männer mussten Haus und Familie verlassen, um in den Krieg zu ziehen. Bald gab es die ersten Einquartierungen von Soldaten in unserer Stadt, auch in der neuen Siedlung im Spitzgrund. Mit der Zunahme von Kriegsverwundeten wurde im damaligen Wettinstift, dem heutigen Altenpflegeheim, ein Lazarett eingerichtet. Die Genesungsspaziergänge führten einige Soldaten auch in die nahe Siedlung .... Als dann 1941 noch ein Film mit dem Filmtitel "Das sündige Dorf“ in die Kinos kam, der auch in unseren "Saxonia-Lichtspielen“ gezeigt wurde, war die Assoziation zu unserer Coswiger Siedlung perfekt. Damit war das "sündige Dorf“ im Spitzgrund geboren und blieb es bis heute – dem Namen nach!
Petra Hamann, Stadtarchiv