Was ist das "Schlesische Himmelreich"?

Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge) - Caspar David Friedrich

Weihnachten in der alten Heimat - so war eine Reihe von Erzählungen überschrieben, die ich als kleines Mädchen jedes Jahr wieder las, in einer Hochglanzbroschüre aus dem Hause Tchibo. Sie fielen mir wieder ein, als ich erfuhr, dass das Coswiger Stadtarchiv die Nachkriegsgeschichte der Umsiedler aufarbeiten will. Zwar verstand ich als Kind nicht richtig, warum "da drüben“ eine Kaffee-Firma Weihnachtsgeschichten druckte. Und noch viel weniger verstand ich, warum aus diesen Geschichten so viel Schwermut und Sehnsucht sprach.

Die Antwort auf die erste Frage war leicht zu finden. Aber über die zweite grübelte ich lange nach. Die Schule konnte ich nach dem Problem der Tchibo-Hefte natürlich nicht fragen. Und meine Atlanten enthielten die Landschaften, die ich suchte, überhaupt nicht: Pommern, Schlesien, Ostpreußen, Sudetenland, Siebenbürgen?

Vor allem der Name Schlesien tauchte oft auf. Auch von Eltern und vor allem Großeltern meiner Schulkameraden hörte ich ihn gelegentlich. In einer Sprache, die ein wenig anders klang als unser breites, leicht verschlafenes Sächsisch. Manche Großeltern konnten sogar polnisch. Das hatte etwas mit Schlesien zu tun, wurde mir bald klar. Einige Familien gingen sonntags zur Messe. Fast alle kochten mitunter Speisen, die anders hießen, rochen und schmeckten als bei uns zu Hause. Eine davon hieß gar "Schlesisches Himmelreich“ ... Und vor Weihnachten spürte ich in diesen Häusern eine ganz besondere feierliche Würde.

Aber niemand wollte so richtig erzählen, was es damit auf sich hatte. "Na, jetzt wohnen wir hier“, bedeutete oft den freundlichen Abschluss des Themas "früher“.

Jahre später fand ich endlich Antworten, die ihrerseits immer neue Fragen aufwarfen. Irgendwann wusste ich, wo das endlose Land lag, in das es die junge Effi Briest verschlagen hatte, und warum die Romanfiguren im Riesengebirge Theodor Fontanes oder im Böhmerwald Adalbert Stifters deutsch sprachen. In den 90-er Jahren nahm das Thema eine offene, eindringliche und sehr kontroverse Diskussion in der europäischen Politik ein. Und jetzt begannen die Umsiedler immer öfter zu erzählen, was ihnen 1945 und in den Jahren danach widerfahren war.

Auch in Coswig, das zu Kriegsbeginn nur etwa 11 000 Einwohner zählte, sind über 3000 Umsiedler angekommen, kurz nach dem Krieg oder Jahre, die letzten erst Jahrzehnte später. Ihre Lebenswege spiegeln einschneidende Ereignisse in der deutschen und europäischen Geschichte wider. Viele von denen, die die Vertreibung als Erwachsene erleben mussten, sind heute nicht mehr unter uns. Die damals Kinder waren, sind jetzt selbst schon Großeltern – von lauter kleinen Sachsen, die sich zumeist mit ganz anderen Fragen beschäftigen.

Wie war das damals? Im Coswiger Stadtarchiv finden sich Dokumente aus der Nachkriegszeit, die von der Not der Umsiedler erzählen. Von den drastischen Verwaltungsmaßnahmen (siehe auch Aufruf des Coswiger Bürgermeisters Kuschel im Dez. 1946), die zur Unterbringung erforderlich waren. Von fehlenden Strohsäcken und Kochgeschirren. Und auch von der Not derjenigen, die selbst nur eine enge, komfortlose Wohnung im alten Coswig besaßen und die Eingewiesenen bei Androhung "unmittelbaren polizeilichen Zwanges“ aufzunehmen hatten.

Mit den wenigen vorhandenen Unterlagen aus jener Zeit konnte das Stadtarchiv in den 90-er Jahren in einer Reihe von Fällen helfen, in denen die Umsiedler keinerlei Unterlagen für die Anerkennung ihres Vertriebenen-Status’ mehr besaßen. Mitunter konnte ein winziger Hinweis auf das Eintreffen in Coswig aus einem der Quarantänelager oder auf dringend benötigte Kinderschuhe gefunden werden – genug für die Gewährung der Vertriebenenzuwendung gemäß gleichnamigem Gesetz. Das war vier Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, fast ein halbes Jahrhundert nach der Vertreibung und der Ansiedlung im Osten Deutschlands.

Diese Zuwendung war kein Ausgleich für die persönlichen Verluste von damals. Vielleicht eine Anerkennung, eine Geste des Respektes gegenüber einem Schicksal, das die einen getroffen und die anderen verschont hatte.

Das Coswiger Stadtarchiv möchte die Erinnerungen der in Coswig Angekommenen sammeln und aufbewahren. Und auch die Erinnerungen derer, die ihren Herd damals mit den neu Angekommenen teilten. Im Archiv, digital (siehe Digitales Stadtgedächtnis) oder - wenn ausreichend Texte und vielleicht Fotos eingehen - auch in gedruckter Form. Damit auch die kommenden Generationen ihre Wurzeln finden können, wenn sie alt genug sind, danach zu suchen.

Wer seine Geschichte aus der alten Heimat, von der Reise ins Ungewisse und dem Neuanfang aufschreiben oder erzählen möchte (auf Wunsch selbstverständlich auch anonym), wird gebeten mit dem Stadtarchiv (Tel. 03523 66-108) Kontakt aufzunehmen.

Ulrike Tranberg, Pressesprecherin